50 Jahre Kassette - Das Jammern der Musikindustrie

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Vor 50 Jahren hat Philips an der IFA ihre Compact Cassette vorgestellt. Nehmen wir diesen netten Geburtstag doch wieder einmal zum Anlass, uns vor Augen zu führen, wie die Musikindustrie normalerweise auf Innovationen reagiert. Sie jammert und schreit, dann setzt sie ihren Lobby-Apparat in Bewegung und versucht die Technologie, die sie stört, zu verbieten und wenn das nicht geht, wenigstens zu melken.

Lesen wir ein paar Beispiele:

Im Spiegel Nr. 17 von 1977 im Artikel "Klang-Supermarkt zum Nulltarif

Vor allem die Leerkassette stellt die Musikfirmen vor kaum lösbare Probleme: Sie verlieren durch Überspielungen in Westdeutschland pro Jahr rund eine Milliarde Mark. Das Unterhaltungsgewerbe steuert in eine Existenzkrise. 

oder: 

Durch den Vormarsch der Leerkassette werden die Plattenfirmen zu empfindlichen Budget-Kürzungen gezwungen sein. Sie werden qualifizierte Mitarbeiter entlassen und ihr Repertoireangebot drastisch einschränken müssen. Nur noch Spezialitätenprogramme, die der Rundfunk nicht oder selten sendet, sowie attraktive Hit-Koppelungen, die nur mühsam do-it-yourself aufzunehmen sind, haben künftig noch eine nennenswerte Umsatzchance.

Wir wissen es mittlerweile besser. Die Musik-Grossindustrie hat überlebt, was eigentlich schade ist, denn die Musik selbst wäre ja auf keinen Fall untergegangen und wir müssten nicht unsere Zeit damit verbringen, gegen absurde und schädliche Forderungen dieser Überlebenden zu kämpfen.

In einer Bravo von 1977 im Artikel "Hits zum Nulltarif - Sind Leer-Cassetten der Tod der Schallplatte?"

Friedrich Schmidt von der Ariola Geschäftsleitung dazu: "In der Bundesrepublik verursachen die Leer-Cassetten für die Schallplattenindustrie einen Umsatzverlust von mehr als einer Milliarde Mark. Darunter leiden natürlich auch Komponisten, Texter, Verleger und die Künster. Wenn die Umsätze weiter zurückgehen, so wird sich das in erster Linie auf das Suchen nach neuen Wegen in der Musik auswirken. 

Das ist ein wunderbar unverfrorenes Argument. Die Experimentierfreude der Musiker und Musikerinnen und damit die künstlerische Weiterentwicklung der Musik ist direkt von den Umsätzen der Grossindustrie abhängig.  

und in der Zeit Nr. 36 von 1976 - Flop mit Pop wird sogar das Ende der Schallplatte auf die kommenden 1980er Jahre prognostiziert:

Die Cassette“, klagt Phonographie-Funktionär Thurow, „ist ein sehr zweischneidiges Ding.“ Schwarzmaler sehen es simpler: Sie prophezeien bereits für Anfang der achtziger Jahre „die letzten Tage der Schallplatte“ (Deutsche Zeitung).

Natürlich haben sie die CD damals noch nicht kommen sehen, und meinten mit dem Tod der Schlallplatte auch gleich den Tod der Industrie. Das liegt wahrscheinlich an der fehlenden Kreativität und Vorstellungskraft von Managern, die in gesättigten Oligopolstrukturen ihrer langweiligen Verwaltungstätigkeit nachgehen. 

Die Geschichte wiederholt sich immer und immer wieder. Wie wir auch im oben erwähnten Spiegel Beitrag nachlesen können:

Schon einmal, bei der Umstellung von der zerbrechlichen Schellack-Scheibe mit 78 Umdrehungen pro Minute auf die unzerbrechliche 33er PVC-Longplay, leistete die notorisch konservative Musikindustrie verbissen Widerstand.

Auch interessant, dass die Industrie in den 1970er Jahren, so wie sie heute Netzsperren fordern, die Radiostationen dazu zwingen wollten, Störsignale zu senden, damit die Sendungen nicht aufgezeichnet werden können. Man beachte auch hier den Hinweis darauf, dass ein solches System sehr einfach zu umgehen gewesen wäre:

Ein von der Londoner EMI patentiertes, unhörbares Störsignal, das den Radiomitschnitt gesendeter Schallplattenmusik verhindern würde, scheint nicht zum Zuge zu kommen. Die Sender mußten, um Mitschnitte generell zu verhindern, gezwungen werden, alle ausgestrahlte Musik mit dem Störcode zu versehen -- eine unpopuläre Maßnahme. Aber selbst wenn sie gelänge, wäre das Störsignal durch ein billiges Zusatzteil im Empfänger zu knacken.

Das sollte uns allen Mahnung sein, nicht wieder auf das Gejammere der Musikindustrie einzugehen und die Vorschläge der AGUR12 auch unter diesem Blickwinkel zu betrachten. Zum wiederholten Male, will die Musik-Grossindustrie ihre Machstellung sichern. Diesmal allerdings mit gravierenden Folgen für uns alle, wenn sie damit durchkommen, was sie in der AGUR12 vorschlagen.  

Aus dem Archiv: Addi, Paolo, Renata und Moritz

Diese EP habe ich vor ein paar Monaten an einem Flohmarkt gefunden. Es handelt sich bei Addi, Paolo, Renata und Moritz um eine Ostschweizer Teenagerband aus den frühen 1970er Jahren, die sich selbst, wie den Songtexten zu entehmen ist, aber eher als Kinderband gesehen hat. Obwohl der Werbetext auf der Rückseite mit dem Satz schliesst: 

Von dieser Band ist noch viel Gutes zu erwarten!

scheint diese Prophezeiung offenbar nicht eingetreten zu sein. Mindestens im Netz ist nichts ausser dieser Schallplatte über die vier Jugendlichen zu finden.  

Aufgenommen und herausgegeben wurde das Werk von Rico Sonderegger, dessen Studio und «Exlusiv» Label auch heute noch zu existieren scheint.

Addi und Paolo, so heisst es auf der Cover-Rückseite seien von den Nielsen Brothers entdeckt worden. Die beiden Songs auf der A-Seite, die im Gegensatz zu den B-Nummern, in Hochdeutsch dargeboten werden, lassen uns diesen Einfluss auch deutlich hören. Der erste Titel «Mein kleines Herz» klingt auch darum wie «Aber Dich gibt's nur einmal für mich» weil er auch aus denselben Federn stammt (Ederer / Gudera).

3 der 4 Songs auf der EP sind von einem Martin Richard komponiert worden, der später mit seinem Martin Richard Quartett selber ein paar Schallplatten veröffentlichten durfte. Was aus den vier Musikern geworden ist, ist im Netz nicht dokumentiert, bzw. habe ich bisher nichts dazu gefunden. Vielleicht schaue ich bei Gelegenheit mal bei Herrn Sonderegger vorbei.

Und hier nun zum reinhören, die letzte Nummer der B-Seite, der «Buebe-Beat», mit einem zugegebenermassen für heutige Ohren etwas grenzwertigen Text.

Der Text auf dem Cover lautet wie folgt: 

Addi, Paolo, Renata und Moritz
Addi und Paolo, die beiden sympathischen Rorschacher Buben, wurden von den Nilsen Brothers entdeckt. Diese berühmten Musiker schrieben Lieder für sie, produzierten mit ihnen zwei Single- Schallplatten („Die Mutter ist Putzfrau bei Lehmann" bei Populär und „Ein Glück, dass wieder mal die Sonne scheint" bei Decca), und sie nahmen die kleinen Sänger auch oft mit auf Reisen. Addi und Paolo wirkten ausserdem in einer Fernsehshow („Betty's Beat Box Haus") und in einem deutschen Spielfilm („Hurra, unsere Eltern sind nicht da") mit.
Addi und Paolo wurden immer wieder von Unterhaltungskapellen gebeten, mit ihnen zu singen, aber schon bald hatten sie das jeweils kurzfristige Proben mit stets anderen Gruppen satt. Inzwischen hatten sie ja gelernt, Gitarre zu spielen, und sie fanden es an der Zeit, eine eigene Band zu gründen! Paolos um ein Jahr ältere Schwester Renata wurde als Organistin und Pianistin gewonnen, und in Moritz, der ebenfalls ein Jahr älter ist, fanden sie einen versierten Schlagzeuger, der zudem noch Gitarre spielen und Trompete blasen kann. Diese vier Kinder nun, die alle ihre Nummern allein und ohne Hilfe von Erwachsenen einstudieren, ergänzen sich musikalisch und gesanglich so ideal, dass der Erfolg einfach nicht ausbleiben konnte: Sie wurden schon bald als Attraktion von einem bekannten „Dance & Show Shop" engagiert, und sie gastierten an ungezählten Orten mit abendfüllendem Programm.
Und nun liegt also die erste Schallplatte von Addi, Paolo, Renata und Moritz vor! Die vier Kinder spielen und singen darauf erfolgreiche Lieder aus ihrem grossen Repertoire, und wer sich diese Platte anhört, wird bestätigen müssen: Von dieser Band ist noch viel Gutes zu erwarten!

Wir warten also... 

Bruno Spoerri - Schweizer Synthesizer-Pionier mit seinem EMS Synthi 100

Bruno Spoerri war wohl einer der ersten Musiker in der Schweiz, der sich der elektronischen Musik verschrieben hat. Das SRF Archiv hat kürzlich diese grossartige Aufzeichnung von 1972 in ihrem YouTube Channel veröffentlicht. Bruno Spoerri erklärt uns anhand der Eurovisions-Erkennungsmelodie von Marc Antoine Charpentier, wie sein EMS Synthi 100 funkioniert.

Der teure, und wie man sieht riesige EMS Synthi 100 war quasi der grosse Bruder des kompakteren EMS VCS-3. Spoerri hatte das Teil ursprünglich zusammen mit Hanns Kennel und Freddy Burger bestellt. Diese sind dann aber noch vor der Lieferung vom Kauf zurückgetreten, was den unerschrockenen Musiktüftler nicht davon abgehalten hat, das Risiko alleine einzugehen und sich das Ding in den Keller zu stellen.

In seinen äusserst lesenswerten «Erinnerungen an fast 50 Jahre Elektronik», lesen wir dazu:

Ich entschied mich todesmutig für das Letztere und entschloss mich, den Keller im Einfamilienhaus in Schlieren in ein Tonstudio umzubauen. Dabei zeigte sich zuerst, dass keine Türe breit genug war, um den Transport des Synthesizers ins Studio zu ermöglichen, also liess ich die Türe verbreitern. Dann kam die Idee, mit dem Synthesizer für grosse Auftritte zu reisen (ich stellte mir das Gewicht des Dings nicht sehr realistisch vor), und so kaufte ich einen neuen Volvo mit erhöhtem Dach. Das war eigentlich ein Krankenwagentyp, der aber auch vom Fernsehen für Reportagewagen gebraucht wurde – mit dem Effekt, dass beim Fernsehstudio die Schranke sofort hochging, wenn ich nur in die Nähe des Studios kam.... (Der Volvo als Transportmittel war natürlich eine Schnapsidee – ich transportierte das Ding später zwar ein oder zwei mal ins Fernsehstudio für eine Sendung, aber mit einem Möbelwagen.)

Im Video sehen wir, dass bereits damals ein Sequenzer integriert war. Spoerri spricht von "programmieren". In den Spezifikationen zum Synthesizer (PDF) steht zum Thema Computer:

The basic software comprises a Text Editor, for the preparation and correction of the MUSYS scores, a Compiler, which translates the scores into lists of numbers to the devices under the control of the clock. There is also a program called Sequencer, which simply uses the storage units of the computer to store data provided by the SYNTHI 100 (from the keyboards, for example).

bzw.

With a solid state storage capacity of 10,240 bits, the new sequencer is capable of precisely controlling 6 different simultaneous parameters over a sequence of 256 successive events. There are several modes of operation and full, easy to operate editing facilities, so that any or all of the 256 stored items and their time relation- ships may be changed without difficulty.

Wenn ich das richtig verstanden habe, sprechen wir von ca. 1 Kbyte Speicherplatz! Ja, die mussten noch sparsam umgehen mit den Ressourcen. 

Bruno Spoerri ist war auch als Musikhistoriker tätig. 2010 ist sein zweites Buch mit dem Titel «Musik aus dem Nichts - Geschichte der elektroakustischen Musik in der Schweiz» im Chronos Verlag erschienen und in der WOZ eine Rezension dazu.

Hier ist noch einmal etwas altes und neueres Spoerri & EMS Synthi 100 Material aus einer Kulturplatz Extra Sendung wahrscheindlich aus dem Jahre 2010 (YouTube Video):

Und wer mehr wissen will, klickt auf diese Links: