Wir brauchen keine Leitblogger und Leitbloggerinnen

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Eine ziemlich erfolgreiche aber weitgehend sinnfreie Kostenlos-Boulevardzeitung stellte kürzlich offenbar fest, dass es in der Schweiz keine Leitblogger und Leitbloggerinen gibt. Claude Longchamp behauptet das Gegenteil, und listet einige solche auf, Clemens Schuster stellt auch eine Liste zusammen und setzt noch die Definition des A-Bloggers aus der Wikipedia dazu, Philippe Wampfler, einer der genannten Superblogger, widerspricht wiederum und stellt einmal mehr fest, dass es in der Schweiz keine relevanten Blogs gäbe. Ausgelöst hat diese Diskussion, die alle paar Monate irgendwo im Netz auftaucht, diesmal die Berichterstattung zu einem ein Marketing-Event für Blogger, was der Geschichte doch eine hübsche Note verpasst

Es ist völlig unnötig im Social Web, und dazu zählen auch die Blogs, nach Leitmedien Ausschau zu halten. Der wesentliche Aspekt des Netzes ist eben, dass es ein Netz ist, ein Kollektiv, welches als System zu analysieren und zu interpretieren ist. Die Konzentration auf die einzelnen Knoten führt auf die falsche Fährte. Nicht einzelne Blogger oder Blogs sind Relevant, sondern das World Wide Web mit dem Social Layer.

Das wesentliche Element des Netzes ist das Mem, die Informationseinheit, die sich durch die Netzwerkknoten (unsere Gehirne) kopiert und mutiert, und nicht ein Individuum, das das Mem weitergibt. (Buchempfehlun dazu: The Meme Machine von Susan Blackmore) Die Mutationen, sind dann die individuellen Zugaben, die wir so hochschätzen oder eben vielleicht auch etwas überschätzen. Damit wir uns allerdings nicht falsch verstehen: Auch ich finde die individuelle Leistung einzelner Menschen grossartig und erfreue mich daran. Diese will ich im Einzelnen auf keinen Fall herabsetzen, aber wenn es um die Frage geht, ob ein Thema gesellschaftliche Relevanz erhält oder nicht, geht es eben nicht  um die Einzelleistung, sondern um ein Systemphänomen.

Wir können uns ganz einfach bei jedem Thema der letzten paar Wochen, welches wir als Relevant einstufen, überlegen, ob das Thema trotzdem öffentlich diskutiert worden wäre, wenn das Individuum oder das Medium von dem dieses vermeintlich ausgegangen war, nicht existiert hätte, oder umgekehrt, wenn nicht viele andere dieses Thema aufgenommen hätten?

Natürlich gibt es auch in einem Netzwerk aktivere und mächtigere Knoten, aber über das Ganze gesehen bleiben auch die wichtigsten  A-Bloggerinnen ohne die anderen Beteiligen, die vielen kleinen Blogs und Social Media Accounts, relativ unbedeutend.

Das was den stärkeren Knoten von den schwächeren Unterscheidet, sind die Anzahl Netzwerkverbindungen die zu und von ihm wegführen. Und diese spielen natürlich eine Rolle, wenn es darum geht eine Botschaft zu verbreiten. Aber auch diese starken Knoten sind in den meisten Fällen einfach Verstärker für Signale die bereits im Netzwerk umher schwirren.

Dieser Suche nach dem Blogger-Superhero, dem die Öffentlichkeit zu Füssen liegt, dieser Idee, dass es Einzelne sind, die Relevanz herstellen, liegt die tief in unserer Kultur verankerte Verherrlichung der Schöpfungskraft des Individuums zugrunde.

Dabei ist es immer der Zeitgeist, sind es die vielen Signale des kollektiven kulturellen Daseins, die das Neue Hervorbringen. Durch die effizientere Vernetzung der Individuen durch das Sozial Web, wird dieser kollektive Schöpfungsprozess nun viel klarer sichtbar.

Das liegt vor allem daran, das das Menschennetz durch diese effizientere Verknüpfungsinfrastruktur viel dynamischer geworden ist. Die Knoten und ihre Verbindungen sind dauernd in Veränderung und die Meme flutschen in einer noch nie dagewesenen Geschwindigkeit durch unsere Gehirne.

Darum kann wer heute gemäss den genannten Merkmalen des Leitbloggers ein Niemand ist, morgen bereits einen Post oder Tweet geschrieben haben, der zu einer wochenlangen Diskussion in der Öffentlichkeit führt, um dann wieder zurück in das umspektakuläre Daseins des einfachen Netzwerknotens zu gelangen.

Es ist nicht die Leitbloggerin die ein Thema besetzt, sondern das Thema emergiert im Netz und die Leitblogger und die Massenmedien vertärken zusammen mit allen anderen Knoten deren Verbreitung.

Einer der Aspekte, die immer wieder vorgebracht werden, ist der, dass alle "relevanten" Themen entweder von den klassischen Massenmedien lanciert wurden, oder erst durch diese eine gewisse "Relevanz" erhalten haben.

Die Massenmedien waren früher die grossen Verstärker und weil die kommunikativen Verbindungsmöglichkeiten der Individuen noch nicht so effizient waren wie heute, war das wohl auch die sinnvollste Konfiguration des öffentlichen Netzes der Gedanken und Ideen.

Doch diese Struktur wird derzeit, wie wir alle wissen, umgebaut. Und genau dies bereitet den etablierten Medien ja so viel Mühe. Das System, welches früher aus viel weniger Verbindungen zwischen den Individuen bestand und durch mächtige Netzwerkknoten (den einzlenen Medien) von welchen viele einzelne und einseitige Verbindungen ausgegangen sind, dominiert wurde, wird jetzt um ein Vielfaches dichter verknüpft. Und die heute sehr grossen Knoten, die ja fast schon als Geschwüre gesehen werden können, müssen den vielen kleineren weichen und absterben, oder selber kleiner werden.

Das macht es auch für die Massenmedien immer schwieriger ein Thema aktiv und bewusst zu setzen. Interessanterweise behaupten ja gerade auch die Protagonisten dieser Medien, immer dann wenn sie in Kritik stehen, dass sie die Gesellschaft mit Themensetzungen manipulieren würden, dass sie ja nichts anderes tun, als das, was bereits in der Gesellschaft brodelt aufzunehmen.

Womit meine Behauptung, dass es eben nicht ein einzelner Verstärker ist, und sei er noch so laut, der dafür verantwortlich ist, dass ein Mem zu einem öffentlichen Thema wird, sondern die Häufigkeit in der das Mem kopiert und weiter geben wird. In diesem Prozess ist jeder Knoten manchmal wichtiger, manchmal weniger wichtig. Hauptsache er kopiert.

Mit "kopieren" meine ich natürlich nicht einfach, das simple duplizieren von Inhalten, sondern verstehe jede kreative Schöpfung als Kopierprozess mit mehr oder weniger Mutationen.

Wir brauchen also nicht nach Leitblogger und Leitbloggerinnen zu suchen, aber wir brauchen möglichst viele, die via Social Media kommunizieren. Dabei ist nicht so wichtig, wie viele regelmässige Leser diese aufweisen können, oder wie oft sie bloggen, solange sie eine minimale Anzahl an Netzwerkverbindungen aufrecht erhalten, die es einem Mem ermöglichen sich zu verbreiten.

(Bild © ova - Fotolia.com)

Der Fall Hegemann und die Freilassung der Ideen

Zum Fall Helene Hegemann ist schon viel gesagt und geschrieben worden. Das Beste was mir bislang unter die Augen gekommen ist, von Regula Freuler in der letzten NZZ am Sonntag, "Literatur mischt alles mit allem", leider (noch) nicht online verfügbar.

Die allgemeine Hysterie, um die paar übertragenen Textstellen ist so lächerlich wie erhellend. Zeigt sie doch sehr schön, auf welchen Irrwegen wir uns im Bezug auf die Beurteilung der Produktion von kulturellen Artefakten bewegen. Dieselben Irrwege, die auch die Grundpfade für die gesellschaftliche Bewertung des Konstruktes des geistigen Eigentums bilden.

Wir glauben, dass es so etwas wie persönliche, eigene Ideen gibt, die dem gehören, der diese für sich behauptet.

Dieser Glaube ist vermutlich falsch. Jede Idee, jeder Gedanke steht auf einem anderen, bereits da gewesenen.

Ideen entstehen erst durch die Interaktion mit der Umwelt. Stellen wir uns im Gedankenspiel ein menschliches Gehirn vor, welches künstlich ernährt, ohne Sinnesorgane in einem dunklen Raum aufwächst und dort irgendwann, nach einem nicht gerade erfüllten leben, stirbt. Damit wir wissen, was in diesem Gehirn vor sich geht, stellen wir uns ein Display vor, dass die Ideen, die das Gehirn produziert anzeigt. Was würden wir wohl auf diesem Display sehen? Nichts, behaupte ich, ohne Kühnheit.

Das bedeutet nicht, dass jedes Individuum nicht auch seinen Beitrag zu einer ausgedrückten Idee leistet, sei dies ein Text, ein Bild, oder welche Art von kultureller Äusserung auch immer. Aber das Eigentum für diese Idee für sich beanspruchen zu wollen ist grundlegend falsch, um nicht zu sagen verwerflich.

Es ist falsch, weil die Idee nicht alleine aus sich selbst entstanden ist, und es ist falsch, weil sie gar nicht hätte entstehen können, wenn vorher alle anderen ein solches Dogma konsequent umgesetzt hätten. Wenn jeder das Eigentum auf seine Ideen geltend macht, und diese nicht verwendet werden dürfen, dann gibt es keine weiteren Ideen mehr.

Nun, einfach kopieren beinhaltet nicht die geringste Eigenleistung, könnte man hier einwerfen. Da Stimme ich sogar zu. Aber kopieren schadet auch niemandem. Und die Weitergabe und Weiterentwicklung von kulturellen Motiven, oder Meme oder wie immer sie nennen wollen basiert letztendlich darauf, dass sie kopiert werden müssen um weitergegeben werden zu können. Sie werden kopiert und dabei verändert, manchmal mehr, manchmal weniger. Originalität gibt es so, wie es uns das Wort vorgaukelt, eben nicht.

Jedes neue Werk beinhaltet Elemente von anderen Werken, manchmal sind es offensichtliche Zitate, manchmal eher versteckte, und oft einfach nicht mehr zurückverfolgbare Inspirationen.

Helene Hegemann hat ja auch keinen Roman kopiert oder abgeschrieben. Sie hat ein neues Werk geschaffen, punkt. Und dieses Werk wird wieder für andere Werke Inspiration sein, und irgendwann werden die "Vaselintitten" wieder verschwunden sein, oder vielleicht in hundert Jahren bei ein paar wenigen etymologischen Feinschmeckern die Diskussionsrunde bereichern.

Es gibt Kunstgattungen, bei welchen die gegenseitige Inspiration in Echtzeit stattfindet, zum Beispiel bei Improvisationen in Musik oder Theater. In anderen Bereichen ist der Prozess langatmiger, gehen die Meme verschlungenere Pfade, doch das Prinzip bleibt dasselbe.

Natürlich kann man sich wünschen, dass die Inspirationsquelle genannt wird, aber wichtig ist dies für die Gesellschaft nicht. Kommt dazu, dass diese Quelle in den meisten Fällen auch gar nicht bekannt ist.

Ich weiss zum Beispiel beim besten Willen nicht mehr, wo ich welchen Input für diesen Text erhalten habe. Wann, welcher Gedanke durch welchen anderen angestossen wurde. Es waren wohl Bücher, Webtexte, Gespräche, Zeitungsartikel? Es ist auch nicht wichtig.

Wichtig ist einzig, dass ein weiteres kulturelles Artefakt in der freien Wildbahn ist, und sich seinen Weg in die Gehirne der Menschen bahnen kann oder auch nicht, und dann irgendwann in den Tiefen des Datennetzes verstummt.

Wenn wir eine Gesellschaft wollen, die sich durch den kulturellen Austausch entwickelt, die geradezu durchtränkt ist von Ideen, welche sich auf verschiedenste Weisen manifestieren, sei dies in Texten, in Songs, in Bildern, in Filmen, usw. dann sollten wir diese Ideen, die wir durch das unsägliche Konstrukt des geistigen Eigentums domestiziert haben, wieder in die freie Wildbahn lassen.

In diesem Sinne hoffe ich, dass der Fall Hegemann dereinst als Ausdruck einer Zeit der Freilassung der Ideen gelten wird, und sich dieses Plagiatsgeschrei als letztes Aufbäumen eines vom austerbenden bedrohten Memes erweist.

Free the memes, and there may be a better world!