Wikileaks & Cablegate: Es geht nicht um totale Transparenz, sondern um mehr Transparenz

Mit der jüngsten Veröffentlichung von mehr als 250’000 US-Botschaftsdepeschen aus aller Welt hat sich die Wikileaks-Truppe um Julian Assange viele neue Feinde geschaffen.

Seither werden alle Register gezogen, um dem Treiben ein Ende zu setzen. Die Bedeutung der Informationen wird heruntergespielt. Die technischen Verbreitungsmöglichkeiten der Wikileaks-Inhalte durch Interventionen bei Internet-Infrastruktur-Anbietern eingeschränkt, dubiose Finanzierungsquellen werden den Betreibern unterstellt und Verschwörungstheorien verbreitet. Und der Kopf der Gruppe, Julian Assange, wird als unausstehlicher Mensch dargestellt, der wegen sexueller Vergehen international gesucht wird. Dabei geht völlig vergessen, dass ein Haftbefehl, noch lange kein Schuldspruch sein muss.

Ein weiteres Argument, das genutzt wird, um gegen Wikileaks Stimmung zu machen, ist die Aussage, dass unsere Welt nicht funktionieren könne, wenn totale Transparenz herrsche. Die Forderung nach völliger Offenheit, wie sie von den Wikileaks Aktivisten und ihren Befürwortern deklariert werde, zerstöre die Möglichkeit, vertrauensvolle Beziehungen aufzubauen.

Wir haben es hier mit einem gut verpackten Ablenkungsmanöver zu tun. Niemand fordert die totale Transparenz, auch die Menschen hinter Wikileaks nicht. Es geht nicht darum, zu verneinen, dass es Informationen geben kann, die nicht veröffentlicht werden sollten.

Bei Informationen, die nur Privatpersonen betreffen und für die Gesellschaft nicht relevant sind, ist die Vertraulichkeit beispielsweise von niemandem in Frage gestellt. Auch nicht, bei Informationen deren Veröffentlichung Leib und Leben anderer Menschen gefährden würde.


Doch der Forderung nach Geheimhaltungsmöglichkeiten von Behörden und Institutionen, die der Öffentlichkeit dienen sollen und von dieser finanziert werden, ist grundsätzlich mit Skepsis zu begegnen. Mit dem Verweis auf Vertraulichkeit kann durch den Machtapparat des Staates viel Schindluder betrieben werden. Beispiele, gerade in der jüngsten Geschichte, gibt es dafür genügend. Mehr Transparenz hilft Machtmissbrauch zu erschweren.

Darum ist es für die Gesellschaft wichtig, für möglichst viel Transparenz zu sorgen und die Bereiche des “Geheimen” auf ein absolutes Minimum zu reduzieren. Dort sind nicht nur totalitäre Systeme, sondern auch die meisten demokratischen Staaten noch lange nicht angelangt, geschweige denn die supranationalen Organisationen, die immer mehr Einfluss auf unser Leben ausüben.

Die aktuelle Frage im Zusammenhang mit Wikileaks ist darum, ob die Veröffentlichung der Dokumente, also das schaffen von mehr Transparenz, dem öffentlichen Interesse eher dient oder schadet. Diese Diskussion sollte geführt werden können, ohne dass Wikileaks oder Julian Assange dämonisiert werden müssen.

Mit den Cablegate-Dokumenten bekommen wir direkten Einblick in die Art und Weise, wie ein Teil der Kommunikation im Bereich der internationalen Diplomatie in den letzten Jahren stattgefunden hat. Es kann in breiten Kreisen über die Gepflogenheiten der internationalen Zusammenarbeit diskutiert werden. Alles in allem können sich mehr Menschen als vor der Wikileaks-Veröffentlichung ein umfassenderes Bild über einige, der von ihnen gewählten Politikern machen.

Demgegenüber stehen die Behauptungen der betroffenen Behördenvertreter und ihrer Kommentatoren, dass die internationale Diplomatie durch die Veröffentlichung der Daten auf Wikileaks grossen Schaden davon getragen hätte, das Konflikte nun evtl. nicht gelöst werden können, dass gar die Kriegsgefahr in einigen Regionen gestiegen sei, dass Menschenleben gefährdet würden und so weiter und so fort. Diese Aussagen, die bislang allerdings nicht belegt wurden, stehen gleichzeitig in ziemlichem Widerspruch zu den Beschwichtigungen, die wir täglich von denselben Akteuren vorgelegt bekommen, dass diese Informationen bedeutungslos, ja nutzlos seien.

Eine abschliessende Beurteilung des Verhältnisses zwischen Schaden und Nutzen wird wohl erst in ein paar Jahren möglich sein. Mir ist allerdings kein Fall aus der Geschichte bekannt, in welchem die Veröffentlichungen von vertraulichen Informationen aus Behörden und Politik der Gesellschaft geschadet hätten - im Gegenteil. Informierte Bürger treffen bessere Entscheidungen. Mehr Transparenz führt darum zu besseren Ergebnissen in demokratischen Prozessen. Solange es Wikileaks braucht, um dieses Mehr an Transparenz zu schaffen, sollen wir dankbar sein, dass es diese Plattform gibt.
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Dieser Beitrag ist am 5.12.2010 auch in der Zentralschweiz am Sonntag erschienen: