Zum Fall Rappaz - Eine Polemik
/Da sitzen sie, die Grossräte des christlichen Kantons Wallis und sind sich in Übereinstimmung mit der veröffentlichten Volksmeinung weitgehend einig: Keine Gnade für Rappaz!
Da sitzen sie und verkünden, dass sich der Rechtsstaat nicht erpressen lassen darf. Alles was Recht ist, bitte sehr! Da sitzen sie und stehlen sich aus der Verantwortung, denn der Herr Rappaz hat ja selber entschieden, dass er nicht mehr essen, dass er sterben will. Da sitzen sie und machen klar: Querulanten haben nichts zu melden, und Kiffer schon gar nicht. Heben wir das Glas Fendant und stossen an: auf den Sieg von Gesellschaft und Moral!
Ich bin verärgert über die Sturheit des stärkeren Systems gegenüber dem schwächeren Individuum, über die mangelnde Reflektion in der Öffentlichkeit über Verhältnismässigkeiten in unserem Rechtsstaat und über die fehlende Bereitschaft unserer Gesellschaft in einem Einzelfall eine menschliche Entscheidung zu treffen.
Bernard Rappaz hat das Problem, dass er als sogenannter Querulant das System stört, dass er als Marihuana-Anbauer und -Händler die Mehrheit der Alkohol konsumierenden Haschischverteufler gegen sich hat und dass er als potentieller Selbstmörder ein Sünder im christlichen Sinne darstellt. Dass er so den ganzen Kanton Wallis gegen sich aufbringt, liegt natürlich auf der Hand.
Aber reicht das, um ihn in selbstgerechter Einmütigkeit sterben zu lassen?
Wenn Bernard Rappaz stirbt, haben wir als Gesellschaft versagt und alle, die die Macht gehabt hätten, für Rappaz eine andere Lösung als einen mehrjährigen Gefängnissaufenthalt zu finden, und das sind einige, werden sich für diesen Tod mitverantwortlich fühlen müssen.
Das moralische Dilemma, das hier konstruiert wird, ob es ethisch vertretbar sei, einen Hungerstreikenden gegen seinen Willen zu ernähren, ist eine zynische Ablenkung von der eigentlichen Frage. Der Frage nämlich, ob es moralisch vertretbar ist einen Menschen, der zwar gegen geltendes Recht verstossen, aber niemandem wirklich schaden zugefügt hat, mehrere Jahre ins Gefängnis zu stecken?
Es ist ein Hohn zu behaupten, dass es hier darum geht, jemandem seinen freien Willen zu gewähren und ihn sterben zu lassen. Bernard Rappaz will doch nicht sterben! Er will allerdings lieber sterben als seinen Lebensabend im Gefängnis zu verbringen.
Wenn wir das erkennen ist es auch kein Problem mehr eine Lösung zu finden. Dann müssen wir uns nicht darauf konzentrieren, ob es ethisch vertretbar ist, ihn gegen seinen Willen zu ernähren (nein, ist es nicht), sondern können genauso die andere Seite der Bedingung behandeln. Zu prüfen, welche Wege es gibt, dass er nicht für mehrere Jahre eingesperrt wird und dabei trotzdem dem Rechtstaat Rechnung getragen wird. Es soll mir doch keiner erzählen, dass das nicht möglich wäre.
Nein, hier verhindert die Sturheit des Systems und die dessen Funktionäre eine sinnvolle Lösung. Er ist nun mal den Behörden schon zu oft auf der Nase herum getanzt, heisst es entlarvend allenthalben. Jetzt schlagen die gedemütigten Bürokraten mit aller Kraft des staatlichen Kollektivs zurück. Unschön einfach, dass jede individuelle Verantwortlichkeit der Akteure hinter dem Begriff Rechtsstaat versteckt werden kann. Alle halten Sie die Axt gemeinsam, aber keiner ist der Henker, denn es sind so viele Hände involviert, dass niemand zu erkennen ist. Es ist ein äusserst schäbiges Schauspiel, dass uns hier geboten wird.
Aber der Rechtsstaat darf sich doch nicht erpressen lassen, ist das Totschlagargument, dass jede inhaltliche Diskussion im Keime ersticken lässt. Dieser Aussage liegt jedoch ein grosses Missverständnis über Sinn und Unsinn eines Rechtssystems in einer Gesellschaft zugrunde.
Regeln können nie für alle Fälle gleichermassen zur Geltung gebracht werden, sondern im Idealfall für sehr viele. Genau aus diesem Grund braucht es u.A. Gerichte bzw. Richter. Es geht in jedem Rechtsfall über den gerichtet werden soll, immer um den Einzelfall.
Für die Beurteilung des Einzelfalls werden dann, wenn ein Rechtssystem diesen Namen verdient, möglichst viele Umstände des betroffenen Falles betrachtet. Weil es nun aber über Betrachtungsweisen auch Meinungsverschiedenheiten geben kann, und weil das menschliche Leben nicht mit dem Metermass vermessen und durch ein paar Formeln berechnet werden kann, gibt es in einem guten Rechtssystem mehrere Instanzen, die einen Einzelfall beurteilen können.
Natürlich findet diese Beurteilung im Rahmen von rechtlichen Bedingungen statt. Doch ein Rechtsstaat bzw. ein gesellschaftliches System ist dann als gelungen zu betrachten, wenn es ermöglicht, einem Einzellfall gerecht zu werden, ohne gleich das ganze System in Frage zu stellen.
Haben wir denn nicht die UBS retten, und den Amerikanern die Daten ihrer gesuchten Steuerflüchtigen geben können, obwohl das damals auch nicht einfach so möglich war, wie überall beteuert wurde? Dann wird es wohl auch möglich sein, einen Weg zu finden um einen Marihuana Anbauer und Händler zu bestrafen, ohne dass er jahrelang eingesperrt sein muss. Wie heisst es doch so schön: “Wer will der findet Wege, die anderen finden Gründe” (gehört von Götz Werner an der re:publica 2010).
Die Berücksichtigung des Umstandes, dass ein Bernard Rappaz um den Preis seines Lebens, nicht für Jahre ins Gefängnis will, heisst doch nicht, dass man sich Erpressen lässt. Man kann jederzeit die Meinung ändern und die Umstände neu beurteilen. Für jemanden wie Herrn Rappaz ist es offenbar eine derart schlimme Vorstellung so lange ins Gefängnis gehen zu müssen, dass er eher seinen Tod in Kauf nimmt. Dieser Umstand muss eine Gesellschaft, die noch einen Hauch ihrer humanitären Tradition besitzt, hellhörig machen.
Unabhängig davon, ob es sinnvoll ist, den Anbau und Handel von Hanf als Droge zu verbieten, kann man doch darüber diskutieren, dem gesellschaftlichen Bedürfnis nach Bestrafung bei derartigen Delikten auch anders als durch eine langjährige Gefängnisstrafe gerecht zu werden. Wenn wir das nicht können, wie wollen wir dann Steinigungen und andere drakonische Strafen in anderen Kulturen verurteilen?
Wenn wir hier nachgeben, dann werden alle rechtmässig verurteilten Verbrecher in den Hungerstreik treten, ist das nächste Argument, dass gegen einen sinnvollen Ausweg aus der Verfahrenen Situation angebracht wird.
Nun, wenn dem wirklich so wäre, wenn alle oder auch nur viele Eingesperrte lieber sterben würden als eingesperrt zu bleiben und in Hungerstreik treten würden, dann würde ja die Gefängisstrafe faktisch der Todesstrafe gleich kommen. In einer solchen Situation wären wir als Gesellschaft gefordert die Gefänginisstrafe zu überdenken. Wenn dies also tatsächlich der Fall wäre, dann hätte Bernard Rappaz einen wichtigen Prozess ausgelöst und wir müssten eine neue Lösung für die Bestrafung von Verurteilten finden. Aber diese Diskussion geht an der Realität vorbei und lenkt nur ab. Es werden nicht alle in den Hungerstreik gehen, weil sich die Situation nicht für alle gleich darstellt, wie für Bernard Rappaz. Es geht um die Verhältnismässigkeit.
Das Ausmass einer Strafe sollte doch im richtigen Verhältnis zum Schaden, den die bestrafte Person angerichtet hat, stehen. Wenn jemand, der Hanf anbaut und verkauft, mehrere Jahre ins Gefängnis soll, während gewisse alkoholisierte Autounfallverursacher oder besoffene Schläger und Messerstecher mit Geldstrafen oder unbedingten Gefängnisstrafen davon kommen, stimmt doch etwas nicht.
Nein, die Verhältnismässigkeit ist in diesem Fall längst aus dem Blickfeld der Akteure gerückt. Hier hat sich ein Streit aufgeschaukelt zwischen einem der sich nicht anpassen will, aber eigentlich harmlos ist, und den Vertretern eines Systems die auf ihrem Feldzug gegen den Unangepassten, gegen den Störenfried, völlig das Augenmass verloren haben; tragischerweise unter Akklamation der Öffentlichkeit.
Was zu tun wäre? Sofortiger Haftunterbruch für Bernard Rappaz. Dann ein Eingeständnis des Systems, dass es hier aus dem Ruder gelaufen ist und die Verhältnismässigkeit neu gesucht werden muss. Das heisst es braucht eine ganzheitliche Neubeurteilung des Falles. Danach kann man immer noch entscheiden, ob wir es hier mit einem tragischen Einzelfall zu tun hatten, und wieder zur Tagesordnung zurück gehen können, oder ob dieser Fall auch ein paar politische Veränderungen zur Folge haben sollte. Dies aber in Ruhe und ohne Hysterie.
Denkt daran, die Regeln machen wir und keiner zwingt uns dazu diese auf Gedeih und Verderb in jedem Falle durchzusetzen. Dieses Verständnis des Rechtsstaats würde die Verantwortung des Einzelnen im Einzelfall völlig vernichten.