Die Wissenschaft kann keine politischen Fragen beantworten

In der Zeit konnten wir kürzlich einen aufschlussreichen Beitrag mit dem Titel "Gekaufte Wissenschaft" lesen. Er zeigt anhand einiger Beispiele, wie die Wirtschaft Studien bestellt und ihren Einfluss auf Forschung und Lehre an den Hochschulen zunehmend professionalisiert (via @zurichlive).

Es ist zwar durchaus zu kritisieren, dass vor allem die Transparenz in solchen Fällen oft zu wünschen übrig lässt, und darum auch wichtig, dass immer wieder auf solche Fehlentwicklungen aufmerksam gemacht wird, aber die wirklichen Probleme in diesem Zusammenhang liegen eigentlich bei unserem Verständnis von Wissenschaft & Politik.

Erstens machen wir oft den Denkfehler, das Ettiket "wissenschaftlich" mit "wahr" zu verwechseln, und zweitens glauben wir, was noch viel gravierender ist, dass sich politische Fragen durch die Wissenschaft beantworten lassen. 

Zum ersten Punkt: Wissenschaftlich zu arbeiten bedeutet zwar, der Wahrheit verpflichtet zu sein. Doch liegt das Problem darin, dass wir als Menschen die "Wahrheit" nie vollkommen erkennen können. Unsere Körperlichkeit bietet uns ein beschränktes Set an Instrumenten. Diese Beschränkung verunmöglicht es uns, die "Wahrheit" über die Welt um und in uns jemals ganz zu erfassen. Wir können, um es mit Popper zu sagen, nur vermuten, und wir können uns darüber unterhalten, welche Vermutung wir als die derzeit beste Erklärung ansehen. Weiterhin können wir permanent anstreben, unsere Vermutungen noch besser der Wahrheit anzunähern.

Die Entscheidung aber, welche Erklärung wir derzeit als die beste betrachten, und damit sind wir bereits beim zweiten Punkt, kann uns niemand abnehmen. 

Wenn der Autor schreibt, dass uns die Wissenschaft Antworten auf die Fragen, wie wir die Gesellschaft organisieren sollen, liefern kann, ist das ein Trugschluss. Die Wissenschaft kann uns höchstens helfen, diese Antworten zu finden, aber entscheiden müssen wir selbst. Darum sind wissenschaftliche Studien oder wissenschafltiche Aussagen von Fachexperten nie als Handlungsdirektiven zu interpretieren, sondern immer nur als Argumente, die der eigenen Entscheidungsfinung dienen können.

Es ist darum gar nicht nötig, dass die Wissenschaftler «unparteiisch» sind, wie das im Artikel gefordert sind. Eine Forderung die von niemandem eingehalten werden kann. Auch Wisschenschaftler haben einen Standpunkt und dieser sollte immer mitberücksichtigt werden. Kommt dazu, dass Wissenschaft nicht im "luftleeren" objektiven Raum stattfindet, sondern im Kontext des jeweiligen Zeitgeistes und der gerade gültigen wissenschaftlichen Paradigmen. Wissenschaftlichkeit einer Aussage oder einer Arbeit zeichnet sich m.E. dadurch aus, dass möglichst grosse Transparenz darüber herrscht unter welchen Bedingungen eine Arbeit entstanden ist und welche Daten und Fakten die Aussagen unterstützen.

Wie wir dann in einer politischen Frage entscheiden, kann nicht an die Wissenschaft delegiert werden. Wir müssen uns selbst fragen, was wir für richtig halten.

Wollen wir die Ehe für homosexuelle Paare zulassen? Wollen den Konsum von Canabis legalisieren? Wollen wir ein Nachrichtendienstgesetz in der Schweiz einführen? Wollen wir eine Zensurinfrastruktur um Hollywood Filme zu schützen? usw. Für solche Fragen kann die Wissenschaft uns zwar das eine oder andere Argument liefern, aber wie wir sie beantworten sollen, kann weder durch einen Algorithmus errechnet, noch aus den Daten gelesen werden.

Hier gilt es im Rahmen von möglichst deliberativen demokratischen Prozessen herauszuarbeiten, wie wir als Einzelne in der Gesellschaft zu diesen Fragen stehen und warum. Wir müssen herausfinden aufgrund welcher Argumente, Vorurteile und auch Gefühle wir so oder anders denken und wir müssen diese Erkenntnis artikulieren und mit unseren Mitmenschen austauschen um dann immer wieder von neuem vorläufige Entscheidungen zu treffen. Wir, die Bürgerinnen und Bürger, nicht die Wissenschaft.

(Bild: © creative soul - Fotolia.com)

Deliberative Demokratie und Partizipation ermöglichen mit Loomio

Demokratie, die diesen Namen auch verdient, bedeutet mehr als Abstimmungen & Wahlen durchzuführen. Sowohl Repräsentation (durch Wahlen) als auch Mehrheitsentscheide (durch Abstimmungen) bringen das Problem mit sich, dass sich einzelne Individuen und Minderheiten gegen ihren Willen, Entscheiden von anderen unterordnen müssen.

Ich weiss, das Problem ist wohl nie vollständig aus der Welt zu schaffen, aber es ist sehr wohl möglich, demokratische Prozesse so zu gestalten, dass die Anzahl der "Unterdrückten" möglichst klein wird.

Als erstes sollte man natürlich immer fragen, ob es überhaupt einen kollektiven Entscheid zu einem bestimmten Thema braucht. Das ist die beste Möglichkeit den Freiraum des Einzelnen oder der von Minderheiten nicht einzuschränken. Aber natürlilch bleiben trotzdem noch sehr viele Situationen übrig, in welchen gemeinsame Entscheide zu Fällen sind, wir sind ja nicht Inseln, sondern Menschen in Gesellschaft.

Als nächstes sollte die Ebene auf welcher entschieden werden muss, so tief wie möglich gesetzt sein, sodass vor allem diejenigen entscheiden, die vom Entscheid auch betroffen sind (Subsidiaritätsprinzip). Jetzt erst stellt sich die Frage, wie der kollektive Entscheidungsprozess ausgestalltet sein müsste.

Die häufigste Form dabei ist die Abstimmung mit Mehrheitsentscheid nach einer Diskussion der Argumente. Das Problem dabei ist aber, dass meistens nicht alle, die das wollten, an der Diskussion teilnehmen können und dass die Diskussion meistens nur so lange geführt wird, bis sich eine Mehrheit abzeichnet. Die Minderheit hat dann in der Regel das Nachsehen.

Eine besserer demokratischer Prozess würde nicht einen Mehrheitsentsched anvisieren, sondern einen Konsens. Dafür müsste die Diskussion aber besser organisiert werden und sie müsste so lange dauern, bis der Konsens hergestellt ist (Deliberative Demokratie).

Nur bei solchen Entscheiden tragen alle Beteilgten diesen auch wirklich mit und vor allem gibt es keine Minderheit die von der Mehrheit in ihren Freiheiten beschnitten wurden.

Und bevor jetzt jemand aufschreit, schreibe ich hier deutlich, dass ich mit Freiheit nicht Egoismus meine und auch nicht blos "negative" Freiheit im Sinne des Fehlens des Zwangs, sondern insbesondere die Freiheit des Individuums die Kollektive denen es angehört auszuwählen und diese mitzugestalten. Mir ist auch klar, dass gerade das Auswählen der Kollektive nicht radikal implementierbar ist. So haben wir die Familie nicht gewählt, aus der wir entstammen und wir können auch nicht einfach so mal den Staat wechseln in dem wir politisch mitbestimmen. Aber immerhin sollten wir auch die Kollektive, die wir nicht gewählt haben, wenigstens mitgestalten können. 

Die Open-Source Software Loomio aus Neuseeland bietet einen interessanten Ansatz bzw. ein nützliches Werkzeug um deliberative Demoktratie in der Praxis umzusetzen.

Loomio Demo 1 from Enspiral on Vimeo.

Zu einem Thema wird eine Website erstellt, auf welcher dann das Thema eingiebig diskutiert werden kann. Jederzeit kann jeder Teilnehmer eine Lösung vorschlagen, auf welche dann die Teilnehmer verschieden reagieren können. 

  • Sie können sich damit einverstanden erklären.
  • Sie können sich der Stimme enthalten und gleichzeitig deklarieren, dass es ihnen nicht so wichtig ist und sie als Teil des gefunden Konsens betrachtet werden können, auch wenn sie nicht Stellung bezogen haben.
  • Sie können erklären, dass sie nicht unbedingt mit dem Vorschlag einverstanden sind, dass sie aber den Entscheid akzeptieren wollen und somit auch Teil des Konsens sind.
  • Sie können den Entscheid blockieren und denklarieren, dass sie einen solchen Entscheid nicht mittragen können.

Es ist auch jederzeit möglich die Diskussion wieder aufzunehmen und neue oder abgeänderte Vorschläge zu bringen, bis sich ein Konsens eingestellt hat.

Das ist genau die Art und Weise, wie Demokratie funktionieren sollte und zwar möglichst überall. Mit überall meine ich die vielen Bereiche, insbesondere in der Wirtschaft aber auch in der Politik, die von solchen Partizipationsmöglichkeiten noch weit entfernt sind. Fast alle unsere Organisationen funktionieren wenn überhaupt demokratisch, dann nach dem Prinzip der Repräsentation. Ich glaube, dass solche internetbasierten Werkzeuge, auch wenn diese noch sehr rudimentär sind, in Zukunft viel mehr direkte und deliberative Partizipation ermöglichen als bisher und dadurch ein höhere Engagement der Beteilgiten bewirken. 

Ich kann diesen Blogpost natürlich nicht beenden, ohne auch auf die Liquid Democracy Konzepte der Piratenparteien und auf die Plattform Adhoracy.de aufmerskam zu machen, die ähnliches wie Loomio ermöglicht.

Mir ist auch klar, dass es noch viele offenen Fragen zu beantworten und einige Probleme zu lösen gibt. Aber wir müssen uns ja nicht als erstes darauf konzentrieren, warum etwas nicht funktionieren kann, sondern wie es funktionieren könnte, wenn wir es gut und richtig finden, nicht wahr.

(Bild: © intheskies - Fotolia.com)